Philosophie der Lebenskunst – Ein Thema auch für Freimaurer?



Wenn wir aus dem Blickwinkel eines Freimaurer auf die Gesellschaft von heute schauen, so treten zwei Phänomene deutlich hervor.

Das eine Phänomen ist der gesellschaftliche Wertewandel. Er wird sehr kontrovers eingeschätzt. Die einen definieren ihn als linearen Werteverfall. Die anderen sehen darin einen Aufbruch zu neuen, aber durchaus auch ambivalenten Wertekonstellationen.

Das zweite Phänomen ist das Bedürfnis des Individuums nach tragfähigen Orientierungshilfen für einen sinnvollen Lebensvollzug.

Dieses Bedürfnis wird gegenwärtig von zwei Seiten in sehr unterschiedlicher Form bedient.

Auf der einen Seite haben wir eine wachsende Fülle populärer Lebenskunstliteratur. Was man hier findet, sind aber lediglich Regeln für alltägliche Verhaltensweisen im Umgang des Einzelnen mit sich selbst und anderen. Man möchte sich in der Gesellschaft ungezwungen bewegen und sein Leben unproblematisch führen können. Das Paradebeispiel dieser Richtung ist Dale Carnegie mit seinem Bestseller "Sorge dich nicht, lebe". Lebenskunst erscheint als ein Begriff für Fragen des konformen Takts und Geschmacks, als  "zeitgemäßer Lifestyle".

Auf der anderen Seite gewinnt eine Vorgabe immer stärker an Aufmerksamkeit, die unter dem Leitmotiv daherkommt: "Nicht Lifestyle, sondern Lebenskunst - die moderne Philopsophie auf der Suche nach dem Sinn des Lebens".

Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht hier der freie Berliner Philosoph Wilhelm Schmid.

Nach siebenjährigen Vorstudien hat er 1998 erstmals sein grundlegendes Werk "Philosophie der Lebenskunst" veröffentlicht, das mittlerweile in der vierten Auflage steht, weil es gedanklich gut durchdacht und im besten Sinne allgemeinverständlich geschrieben ist, ohne in den ebenso jovialen wie formelhaften Ratgeberton von Carnegie & Co abzudriften. In 2002 hat Schmid ein weiteres Buch vorgestellt mit dem Titel "Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst", das den Auftakt zu einer von ihm selbst herausgegebenen Reihe zur Lebenskunst bieten soll. Im Mai 2004 ist der erste Band unter dem Titel "Mit sich selbst befreundet sein - Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst" erschienen.

Lebenskunst in der trivial erscheinenden Fragestellung "Worin besteht das Leben?" und vor allem "Wie kann ich mein Leben führen?" wurde lange Zeit von der Fachphilosophie bewußt ausgeblendet. Ursächlich dafür war die moderne Bedürfnislage, die kurz gefaßt so lautete: Es bedarf keiner Lebenskunst!  Alles ist technisch machbar! Das Leben läßt sich von A bis Z vollständig durchplanen. Wozu Lebenskunst?

Heute, so argumentiert Schmid, stehen wir an einem Punkt, wo wir Lebenskunst unbedingt brauchen, weil die von den herrschenden Autoritäten vorgegebenen Lebensorientierungen nicht mehr als zielführend empfunden werden.

Zur Begründung führt er aus: Ich zitiere

"Eine signifikant hohe Nachfrage zu diesem Versuch der Lebenskunst, wie ich ihn unternehmen möchte, kommt in der Tat aus dem christlichen Bereich. Da kann man sich natürlich noch verschärft die Frage stellen, ob diese Menschen nicht wissen, wie zu leben ist? Warum kommen sie zu einem Philosophen und fragen nach Lebenskunst? Ich kann mir das nur so vorstellen, daß eine Menge von Menschen auch innerhalb des Christentums es überdrüssig sind, gesagt zu bekommen, wie sie zu leben haben und deswegen zur Philosophie kommen; denn die heutige Philosophie kommt nicht daher und sagt, wir wissen, wie man zu leben hat. Sie kann aber auseinanderlegen, was nötig ist, wenn man sein Leben selbst in die Hand nehmen möchte. Dann gibt es eine Reihe von Elementen, aus denen man sich bedienen und seine Wahl treffen kann."
-Zitatende-

Wilhelm Schmid führt in seinen beiden Büchern "Schönes Leben?" bzw. "Mit sich selbst befreundet sein - Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst" in eine Vielzahl alter und neuer Themen ein, die zum Teil auch bereits in der antiken Philosophie unter dem Begriff Lebenskunst behandelt werden. Dazu zählen Themen wie

"Die Zeit gebrauchen", "das Netz der Gewohnheiten knüpfen", "Vom Sinn der Schmerzen", "Vom Leben mit dem Tod", "Rehabilitierung der Heiterkeit", "Kunst des Zorns und der Ironie", oder Themen von heute, wie "ökologischer Lebensstil", "Fitness und Wellness" oder "Umgang mit den Lüsten".

Selbst die modernen Informationstechnologien werden als Thema der Philosophie der Lebenskunst nicht außen vor gelassen.

Wilhelm Schmid dazu: Ich zitiere

"Für mich bestehen nicht grundsätzlich so große  Unterschiede zwischen der ideellen Technik des Lebens und der realen Technik  des Lebens, wie sie das Internet darstellt. Man kann wunderbar beide unter dem Aspekt etwa der verwaltenden Lebensführung, soll heißen, der Organisation des Lebens, miteinander in Verbindung bringen. Da spart man sich sogar noch eine Menge Zeit, die man mit anderen Lebenskunstfragen, wie z. B. dem Zusammensein mit Freunden verbringen kann." 
-Zitatende-

Die Philosophie der Lebenskunst ist also eine äußerst praktisch orientierte Angelegenheit. Sie beschäftigt sich weitgehend mit den Alltagssituationen der Menschen, ohne diese allerdings lösen zu wollen. Sie will nur Möglichkeiten zu deren Bewältigung offerieren, zwischen denen der Interessierte dann wählen kann. Damit tritt die Lebenskunst natürlich in Konkurrrenz auch zur Ethik.

Dazu führt Schmidt aus: Ich zitiere

"Gutes Leben, das fällt in den engeren Bezirk der Ethik, geht es doch um die Frage, was man in moralischer Hinsicht tun soll. Nun haben allerdings nicht alle unsere Lebensprobleme mit moralischen Dingen zu tun, sondern ganz im Gegenteil, moralische Fragen sind eher die Ausnahme. Der Alltag wird von anderen Dingen belegt. Dabei drängt sich die Frage auf: Wie kann ich ein Leben führen, das mich auch halbwegs zufrieden stellt?"
-Zitatende-

Die Berechtigung dieser Frage leitet sich daraus ab, daß für Schmidt die Ethik zu sehr darauf abgestellt ist, das Individuum der Gemeinschaft unterzuordnen. Es soll sich an gemeinsamen Werten orientieren und demgemäß die Maxime seines Handelns auswählen. Schmids Konzeption von der Lebenskunst verändert dieses traditionelle ethische Muster. Sie geht von der Erfahrung der Moderne aus, nach der der Einzelne auf sich gestellt ist und seine ethischen Orientierungen selber wählen muß. Als Maßstab besitzt er dazu nur die Selbstliebe. Insofern entwickelt Wilhelm Schmid eine individualistische Vorstellung von Lebenskunst: Ich zitiere:

"In Bezug auf das individuelle Leben hat mir niemand irgend etwas zu sagen. Das ist einfach Faktum. Selbst wenn es um so etwas geht wie Schwangerschaftsabbruch. Da kann man wunderbare allgemeine Ethiken machen. Wenn ich betroffen bin davon - gesetzt den Fall ich als Mann könnte das so direkt  sein - dann werde ich mir dennoch für mich überlegen, was ich für verantwortbar halte oder nicht."
-Zitatende-

An die Stelle der Pflicht tritt die Klugheit oder die Reflexion. Es gibt für Schmid kein unbedingtes ethisches Gutes, sondern letztlich nur individuelle Güter, die man durch eine geschickte Lebensführung erreichen und in Übereinstimmung miteinander bringen kann. Dabei setzt Wilhelm Schmid weniger auf den Egoismus, obgleich er ihn zuläßt, als vielmehr auf die Kooperation des Individuums mit anderen Individuen, weil durch sie nicht nur die eigenen Ziele viel geschickter und kluger verfolgt werden können, sondern auch eine bessere Organisation des gesellschaftliche Miteinanders möglich ist.

Schon diese grundsätzliche Skizze reicht aus, um die Frage zu erörtern, ob die Freimaurerei dieser Art von  Philosophie der Lebenskunst etwas Substantielles entgegenzusetzen hat.

Ich sage: Ein klares Ja - sie hat ihr etwas entgegenzusetzen.

Wenn dies der Fall ist - dann: Was hat sie ihr entgegenzusetzen?

Die Antwort auf diese Frage heißt, den Blick auf das Selbstverständnis der Freimaurerei und seine Umsetzung in der Praxis zu richten.

Bekanntlich nennt sich die Freimaurerei eine königliche Kunst. Gemeint ist damit die  Kunst ernster Selbsterkenntnis, die Kunst strenger Selbsterziehung, die Kunst harmonischer Lebensführung.

Dementsprechend formulierten die Großlogen von Bayreuth, Frankfurt und Hamburg schon vor einem Jahrhundert:

"Die Freimaurerei ist die Kunst, das menschliche Leben harmonisch zu gestalten, die Kunst, sich selbst in das richtige Verhältnis zum Nebenmenschen zu bringen. Freimaurerei ist Lebenskunst."

Bekräftigt wird dieses Selbstverständnis außerdem durch die drei Leitsätze, an die sich jeder Freimaurer halten sollte:

Erster Leitsatz: SCHAU IN DICH! ERKENNE DICH SELBST! Das heißt - folgt man den Erörterungen im Schrifttum: Bleibe dein Leben lang ein Suchender. Aber versuche, mit dir selbst in Harmonie zu leben und durch Selbsterziehung zur Selbsterkenntnis zu kommen.

Zweiter Leitsatz: SCHAU UM DICH! Das heißt: Erkenne die zwangsläufige  Abhängigkeit der Menschen untereinander. Öffne dich deinen Mitmenschen. Strebe nach Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit. Habe Vertrauen zu der ideellen weltumspannenden Bruderkette und baue selbst an ihrer Tragfähigkeit mit.

Dritter Leitsatz: SCHAU ÜBER DICH! Das heißt: Sieh nicht in dir selbst die höchste Instanz. Betrachte dich als Bestandteil  einer unzerstörbaren geistigen Welt zu sein.

Die Zusammenführung von Schau in dich - Schau um dich - und - Schau über dich - im Verhalten des Freimaurer kann es ihm ermöglichen, sich selbst zu verwirklichen.

Um dieses Ziel zu erreichen, ist es allerdings notwendig, diese sehr allgemein gehaltenen Leitsätze in Verhaltensgebote für eine sinnvolle bzw. erfüllte Lebensgestaltung umzusetzen.

Die Festlegung möglicher Verhaltensgebote erfolgt in der Freimaurerei nicht "Ex Cathedra", weil wir über keine zentrale Lehrautorität verfügen und dies auch nicht wollen!

Das heißt wiederum: Jeder einzelne Freimaurer muß dies aus eigenem Antrieb tun.

Ich möchte für mich persönlich aus den drei Leitsätzen zehn Gebote ableiten, deren strikte Beachtung für eine sinnvolle Lebensgestaltung und ein positives Einwirken auf mein gesellschaftliches Umfeld  zielführend sein könnte:

1. Diene dem Ideal der Ethik, das Leid in der Welt zu mindern! Versuche durch engagierte Mitmenschlichkeit und durch einen angemessenen Stil des Umgangs mit den Menschen und den Dingen der Welt glaubwürdig zu sein!

2. Verhalte dich fair gegenüber deinem Nächsten - und deinem Fernsten! Du solltest respektieren, daß jeder Mensch das Recht hat, seine Vorstellungen vom guten Leben und Sterben im Diesseits zu verwirklichen, sofern er dadurch nicht gegen die Interessen anderer verstößt.
 
3. Habe keine Angst vor Autoritäten, sondern den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

4. Du solltest nicht lügen, betrügen, stehlen, töten - es sei denn, es gibt im Notfall keine anderen Möglichkeiten, die Ideale der Humanität durchzusetzen. Ethisches Handeln bedeutet keineswegs, blind irgendwelchen moralischen Geboten und Verboten zu folgen, sondern in der jeweiligen Situation abzuwägen, mit welchen positiven und negativen Konsequenzen eine Entscheidung verbunden wäre! Das heißt: Zur Wahrung von Menschenrechten und Menschenwürde muß gegebenenfalls auch ihre Verletzung in Kauf genommen werden. Das kann, wie die Gegenmaßnahmen nach den Anschlägen des internationalen Terrorismus vom 11. September 2001 gezeigt haben, auch ein militärisches Eingreifen etwa im Sinne eines chirurgischen Schnitts bedeuten.

5. Befreie dich von der Unart des Moralisierens! Es gibt in der Welt nicht "das Gute" und "das Böse", sondern bloß Menschen mit unterschiedlichen Interessen, Bedürfnissen und Lebenserfahrungen!

6. Immunisiere dich nicht gegen Kritik! Ehrliche Kritik solltest du niemals abweisen. Durch solche Kritik hast du nicht mehr zu verlieren als deine Irrtümer. Auf kritische Argumente zu hören und aus der Erfahrung anderer zu lernen, kann für dich in vielerlei Hinsicht gewinnbringend sein. Habe Mitleid mit jenen Kritikunfähigen, die sich aus tiefer Angst heraus als "unfehlbar" und ihre Dogmen als "heilig" (unantastbar) darstellen müssen.

7. Sei dir deiner Sache nicht allzu sicher! Was uns heute als richtig erscheint, kann schon morgen überholt sein! Zweifle aber auch am Zweifel: Selbst wenn unser Wissen stets begrenzt und vorläufig ist, solltest du entschieden für das eintreten, von dem du überzeugt bist.

8. Überwinde die Neigung zur Traditionsblindheit, indem du dich gründlich nach allen Seiten informierst, bevor du eine Entscheidung triffst. Nichts geht über das Lautdenken mit dem Freunde. Ein Diskurs unter Freunden soll die Möglichkeit schaffen, sich zu orientieren, die Welt klarer zu erkennen und sich im Miteinander suchender Menschen zum humanitären Handeln zu motivieren. Bemühe dich um die Einsicht, daß richtiges Fragen wichtiger ist als vorschnelles, zu kurz gegriffenes Antworten. Halte dich grundsätzlich offen für neue Gedankengänge und innovative Lösungen von Problemen.

9. Genieße dein Leben, denn dir ist höchstwahrscheinlich nur dieses eine gegeben! Sei dir deiner und unser aller Endlichkeit bewußt! Gerade die Endlichkeit macht es so ungeheuer kostbar. Laß dir von niemandem einreden, es sei eine Schande glücklich zu sein! Indem du die Freiheit genießt, die du heute besitzt, ehrst du jene, die in der Vergangenheit im Kampf für diese Freiheiten ihr Leben gelassen haben!

10. Stelle dein Leben in den Dienst einer "größeren Sache", werde Teil der Gemeinsaft derer - und da steht für mich die Freimaurerei an erster Stelle - , die die Welt zu einem lebenswerteren Ort machen wollen! Eine solche Haltung ist das beste Rezept für eine sinnerfüllte Existenz.

Ich bin mir sicher, daß meine Einführung und insbesondere dieser Verhaltenskatalog unter den Brüdern bzw. unter den Gästen nicht unumstritten sein dürfte. Doch es steht außer Frage, daß wir uns dem Diskurs über sinnvolle Lebensgestaltung und Lebenskunst nach "innen", d.h. in den einzelnen Logen bzw. im Bund aller Freimaurer und nach "außen", d.h. gegenüber Profanen bzw. anderen ethisch-orientierten Gruppierungen, selbstbewußt und unverkrampft stellen müssen. Von der Qualität unserer Beiträge wird es abhängig sein, ob wir in Zeiten wachsender Orientierungslosigkeit als ethischer Kompaß wirkungsvoll fungieren und damit die Zukunftsfähigkeit der Freimaurerei nachhaltig demonstrieren können oder  als "Quantité negligeable", d.h. als eine zu vernachlässigende Größe in der Gesellschaft dahindümpeln.

Ich bedanke mich bei Brüdern und Gästen für Geduld und Aufmerksamkeit!